Straf- und Zivilerecht hautnah am Amtsgericht

Exkursion in das Amtsgericht Tiergarten

(as) Freitag, der 27.09.2024, 08:00 Uhr morgens. Der Wirtschafts-und-Sozialkunde-Unterricht der Klasse MDP23-Block fand an diesem Tag nicht im üblichen Raum statt – sondern im Amtsgericht Tiergarten, dem größten Amtsgericht Berlins. Grund dafür? Unser aktuelles Thema: Zivil- und Strafprozesse. Worum es in dem Fall ging, in den wir hineinschnuppern durften, stand zu diesem Zeitpunkt jedoch noch nicht fest.  

Nach erfolgreichem Passieren der Sicherheitskontrolle gerat diese Frage auch kurz in Vergessenheit, während wir die eindrucksvolle Architektur des Atriums bestaunten und auch einige Fotos machten. Geschwungene Torbögen, prunkvolle Wand- und Deckenverkleidungen sowie fein gearbeitete Skulpturen säumten den Blickfang im Zentrum der Eingangshalle: Eine steinerne Treppe, welche sich in schier endlos viele Richtungen verzweigt. Dieser Anblick reichte schon aus, um eine neue Portion Respekt zu schaffen. Als die Sicherheitskraft am Eingang „Folgeverfahren“ und „Mord“ erwähnt, wird die Klasse jedoch wieder hellhörig. Schließlich rechnete niemand von uns damit, heute einem Verfahren zu einem so schwerwiegenden Delikt beizuwohnen.

Auf der Suche nach dem richtigen Saal, die sich durch den reichlich verwinkelten Grundriss als unerwartet schwierig erwies, passierten uns einige Mitarbeitende der Justiz, Richter und Richterinnen, die Staatsanwaltschaft sowie Verteidiger und Verteidigerinnen, die zielstrebig zu den richtigen Gerichtsälen schritten. Daneben fühlten wir uns beinahe fehl am Platz – wie Eindringlinge, obwohl das Amtsgericht ja eigentlich ein öffentliches Gebäude ist.   

Pünktlich angekommen, erwies sich Saal 704 als kleiner als viele von uns gedacht haben. Auch vom Prunk des Atriums ist hier wenig übrig; die hölzernen Möbel sind schlicht, die Fenster kugelsicher verglast, nur das Richterpult hebt sich optisch vom Rest des Saales ab. Auch die Anzahl der Teilnehmenden war überschaubar. Jedoch war die Verteilung der Rollen dieser für Außenstehende nur schwer abzulesen. Die eigentliche Verhandlung verlief wesentlich entspannter und weniger streng strukturiert als erwartet. So wurde der Prozess beispielsweise spontan unterbrochen und es schien auch erst an Ort und Stelle entschieden zu werden, in welcher Reihenfolge die vorgeladenen Zeugen aussagen sollten.

Erst im Verlauf der Verhandlung konnten wir anhand der Zeugenaussagen ungefähr erschließen, worum es in diesem Fall konkret ging. Dem Angeklagten wurde vorgeworfen, im Juli des Jahres 2022 einen ihm bekannten Mann mit einem Messer attackiert zu haben. Es ging in diesem Prozess also darum, den Tathergang möglichst genau zu rekonstruieren und zu ermitteln, ob eine Tötungsabsicht vorlag.  

An diesem Prozesstag wurde dazu zunächst eine unabhängige Ärztin befragt, die basierend auf dem notärztlichen Einsatzbericht vom Tattag Fragen zur Verletzung des Geschädigten beantworten sollte. Als nächstes wurde eine Psychologin aufgerufen, die anhand eines Berichtes des Beschuldigten den Tathergang aus dessen Perspektive schilderte. Es schien, als hätte sie seine Aussagen nicht hinterfragt, da selbst Laien wie wir mit den wenigen Informationen, die wir hatten, auf eine Reihe an Widersprüchen zwischen seinen Aussagen und der Beweislage aufmerksam wurden. Jedoch war es, wie auch der Richter betonte, nie die Aufgabe der Psychologin, den Fall zu lösen, sondern lediglich, den Tathergang aus Sicht des Angeklagten in Erfahrung zu bringen und möglichst unverändert wiederzugeben.  

Weiterhin äußerte sich ein Augenzeuge dazu, was er in den entscheidenden Momenten der Tat gesehen und gehört hat. Besonders spannend wurde es, als seine Aussage eine dritte, bisher scheinbar unbekannte Person mit dem Ablauf der Tat in Verbindung brachte. Jedoch endete unsere Exkursion leider an dieser Stelle.  

Es überraschte uns, dass die Prozessbeteiligten sich völlig frei im Gerichtsgebäude sowie außerhalb dessen bewegen konnten. Allem voran rechneten wir nicht damit, dass der Angeklagte – der ja immerhin wegen einer schweren Gewalttat vor Gericht stand – der Verhandlung ohne jegliche Form von Handschellen oder Überwachung durch Justizmitarbeitende beiwohnte. Völlig perplex waren wir dann, als der Beschuldigte nach der Verhandlung mit einigen von uns in die U-Bahn stieg – und einem älteren Herrn beim Aufsetzen seiner Cap half.  

Gegen Mittag verließen wir das Kriminalgericht also nicht nur mit einer ungestillten Neugier auf das Ergebnis des Prozesses, sondern auch mit einem nun viel realitätsnäherem Respekt vor Juristen, die Tag für Tag ihr Bestes geben, um richtige Entscheidungen zu treffen und Gerechtigkeit walten zu lassen. Auf der Zuhörerbank in der letzten Reihe des Gerichtssaals mussten wir uns immer wieder vor Augen führen, dass es sich bei diesem Prozess um keinen Film, sondern um die harte Realität handelt. Beschreibungen wie „typisch Berliner Lärm“ und „Kreuzberg-Geschrei, ganz normal“ wirkten surreal verharmlosend und entließen uns mit einem mulmigen Gefühl zurück in unseren Alltag. Durch diese Exkursion konnten wir ein Thema, das den meisten von uns bisher nur aus True Crime-Podcasts und Fernsehserien bekannt war, hautnah miterleben und die spannenden Abläufe auch in Wirklichkeit sehen; gleichzeitig brachte sie uns die theoretischen Unterrichtsinhalte näher.